Unterscheidung der Geister I – Wahrnehmen und Benennen

Die Regeln zur Unterscheidung der Geister sind das Kernstück der Exerzitien und der ignatianischen Spiritualität. Sie basieren auf dem Zusammenspiel von Herz und Kopf, von Affektivität und Verstand, von innerer Erfahrung und dem bewussten Wahrnehmen und Reflektieren. Sie helfen uns dabei, in den unterschiedlichen Erfahrungen und Einflüssen des Alltags nach der Stimme Gottes zu suchen und wichtige Entscheidungen vorzubereiten und zu treffen.

Die Unterscheidung der Geister hat ihren Ursprung in der Erfahrung des Ignatius auf dem Krankenbett in Loyola. Der zur Untätigkeit verdammte Edelmann verbrachte einen Teil seiner Zeit mit Tagträumen. Neben weltlichen Ritter- und Heldenfantasien begann er mit der Zeit auch, sich vorzustellen, nach dem Beispiel der Heiligen Franziskus und Dominikus geistliche Heldentaten zu vollbringen, barfuss nach Jerusalem zu pilgern und seine Vorbilder noch an Askese und Radikalität zu übertreffen. Dabei wurde ihm bewusst, dass ihn zwar beide Traumwelten ähnlich gut unterhielten, dass aber der Nachgeschmack unterschiedlich war. Nach den Ritterfantasien fühlte er sich „trocken und unzufrieden“, während die Heiligenfantasien ihn „getröstet“, „zufrieden und froh“ zurückliessen (Bericht des Pilgers Nr. 8).

Dieser Unterschied musste eine Bedeutung haben. Ausgehend von der Intuition, dass die positiven Gefühle von Gott kommen, die negativen aber vom „Teufel“, begann er, systematisch seine Erfahrungen wahrzunehmen und die damit verbundenen Gefühle und Impulse zu unterscheiden: Was führt zu mehr Freiheit, Leben und Liebe… und was nicht? Aus den dabei gemachten Erfahrungen entstanden in den „Geistlichen Übungen“ zwei Gruppen von „Regeln, um auf irgendeine Weise die verschiedenen Bewegungen zu verspüren und zu erkennen, die in der Seele verursacht werden: Die Guten, um sie aufzunehmen, die schlechten, um sie zu verwerfen“ (GÜ 313).  

Die wichtigste Voraussetzung für das Unterscheiden der Geister ist demnach
das bewusste Wahrnehmen und Benennen von innere Bewegungen und Gefühlen.

Das Bild des Streitwagens aus dem Kinoklassiker Ben Hur aus dem Jahre 1959 kann hier als Metapher dienen für das fruchtbare Zusammenwirken von Verstand und Gefühl, von Kopf und Herz (in vager Analogie zu Platons Seelenwagen). Dabei ist das Entscheidende nicht das berühmte Wagenrennen selbst, sondern was vorher geschieht. Als Ben Hur zum ersten Mal die vier Schimmel sieht, werden sie von einem unerfahrenen Lenker trainiert. Ben Hur erkennt und unterscheidet sofort die individuellen Qualitäten der vier Pferde und stellt jedes an den Platz, an dem seine Eigenschaften am besten zum Tragen kommen. Am Abend vor dem Rennen besucht er sie im Stall, wo er jedes einzelne Pferd mit seinem Namen anspricht. Er sieht sich nicht als Beherrscher dieser Pferde, sondern bildet mit ihnen ein Team, in dem jeder an seinem spezifischen Platz seine besonderen Fähigkeiten zur Entfaltung bringt.

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Auch bei der ignatianischen Unterscheidung geht es nicht darum, mit dem Verstand die Gefühle und inneren Regungen zu beherrschen, sondern diese bewusst wahrzunehmen, beim Namen zu nennen und mit ihren spezifischen Eigenschaften anzunehmen. Denn sie sind nicht nur Teil meiner Realität, sondern auch ein wesentlicher Ort der Kommunikation mit Gottes Geist.

Umgang mit Gefühlen, Stimmungen und inneren Regungen

  • Keine Angst vor Gefühlen – Gefühle sind manchmal schwer zu kontrollieren. Sie scheinen uns gelegentlich zu überwältigen. Auch die Ambivalenz und scheinbare Widersprüchlichkeit von Gefühlen kann irritieren (wie kann ich auf jemanden wütend sein, den ich liebe oder um den ich trauere?). Der Versuch, negative Gefühle zu verdrängen oder gar zu unterdrücken führt aber dazu, dass oft auch positive Gefühle nicht mehr wirklich wahrgenommen werden.
  • Sich nicht für Gefühle verurteilen – nicht selten haben wir Schuldgefühle oder schämen uns wegen Gefühlen wie Angst, Trauer, Wut oder Eifersucht. Aber Gefühle sind spontane Reaktionen auf äussere oder innere Umstände und in den meisten Fällen nicht bewusst von uns selber hervorgerufen. Daher haben sie an sich keine moralische Qualität. Wir sind nicht verantwortlich für das Auftreten von unseren eigenen Gefühlen, aber wir sind verantwortlich dafür, wie wir mit ihnen umgehen.
    Beispiel: Wut ist ein Gefühl, dass wir oft in Form von Gewalt erleben. Und weil wir Gewalt mit Recht ablehnen, darf auch Wut nicht sein. Doch die Wut ist da und will bewusst wahrgenommen werden. Da wo sie abgelehnt und unterdrückt wird, verwandelt sich die darin enthaltene Energie erst recht in Gewalt (gegen andere oder gegen uns selber).
  • Gefühle benennen lernen – es gibt einen direkten Bezug zwischen der Fähigkeit, Gefühle wahrzunehmen und Gefühle zu benennen. Je differenzierter ich ein Gefühl wahrnehme, desto differenzierter muss meine Sprache sein, um es zu formulieren. Und je differenzierte meine sprachliche Ausdrucksfähigkeit wird, desto differenzierter wird meine Wahrnehmung.
    Beispiel: Rund um den Wein hat sich eine eigene Weinsprache entwickelt, um den feinen Nuancen in Geschmack und Qualität Ausdruck verleihen zu können. Sowohl die spezifischen Begriffe als auch die Wahrnehmung der dazugehörenden Qualitäten können gelernt und eingeübt werden.
    Das Bewusstwerden durch Versprachlichung (schriftlich oder mündlich) von Gefühlen und inneren Regungen gehört also wesentlich zur Einübung in die Unterscheidung der Geister (Notizen, Tagebuch, Gespräche in der geistlichen Begleitung).
  • Freiheit durch Bewusstsein – indem ich ein Gefühl bewusst wahrnehme und benenne, bin ich nicht mehr „identisch“ mit dem Gefühl. Dadurch entsteht ein innerer Freiraum, in dem ich unterscheiden und entscheiden kann.
    Beispiel: Wenn ich Angst habe, droht dieses Gefühl alle meine Handlungen zu bestimmen (bis dahin, dass ich viele Möglichkeiten gar nicht zulassen, um die damit verbundene Angst nicht spüren zu müssen). Sobald ich mir aber bewusst sagen kann, „ich habe Angst“, trenne ich zwischen mir und der Angst und schaffe die Möglichkeit zu fragen: Was ist das gerade für eine Angst? Warum und wovor habe ich Angst? Ist diese Angst in der aktuellen Situation wirklich begründet oder ist es eine Angst, die vor allem mit früheren Erfahrungen zu tun hat? Diese Unterscheidung erlaubt es mir zu entscheiden, ob ich auf meine Angst höre oder ob ich trotz meiner Angst einen Schritt wage.
    Besonders wichtig ist diese Möglichkeit, wenn es darum geht, mit Wut umzugehen und zu verhindern, dass diese in blinde Gewalt umschlägt.

Je mehr wir fähig werden, ohne Angst und vorschnelle Urteile unsere Gefühle und inneren Regungen bewusst wahrzunehmen und zu benennen, desto grösser wird der Raum unserer inneren Freiheit. Die Regeln zur Unterscheidung der Geister wollen uns dabei helfen, diesen Freiraum zu nutzen, um so gut wie möglich zu unterscheiden und zu entscheiden,
was mehr der grösseren Ehre Gottes dient.

„Und sollte ich dieses Jahr (1941) durch ein einziges Wort kennzeichnen müssen… so müsste es lauten: Bewusstwerdung und dadurch Verfügbarkeit über die tieferen Kräfte in mir selbst“
Etty Hillesum, Tagebuch, 31. Dezember 1941

3 Kommentare zu „Unterscheidung der Geister I – Wahrnehmen und Benennen

    1. Herzlichen Dank, liebe Emma!
      Ich arbeite hier meine „technischen“ Impulse etwas auf, die ich normalerweise während Exerzitienkursen oder für Exerzitieneinführungen gebe. Die müssen einfach sein und vor allem praktisch. Umso mehr freue ich mich über Dein „nachvollziebar und verständlich“ 🙂

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